„Das Kribbeln im Bauch“
Im März waren Jeanette (58) und Matthias Ott (63) mit ihrer unheilbar erkrankten Tochter im Angelika Reichelt Kinder- und Jugendhospiz Joshuas Engelreich zu Gast. Ungeplant und völlig improvisiert gaben sich die Beiden in Wilhelmshaven ein zweites Mal das Ja-Wort.
„Möchtest Du mich heiraten?“ – diese Frage stellte Matthias seiner Traumfrau Jeanette nach 45 Jahren Beziehung auf Knien ein zweites Mal. Das Ehepaar Ott kommt aus Bad Rippoldsau-Schabach in Baden-Württemberg. Die Beiden sind seit 38,5 Jahren miteinander verheiratet und haben elf Kinder sowie neun Enkelkinder. Die zweitjüngste ist die heute 18-jährige Cathi, die u. a. eine schwere Mehrfachbehinderung mit zentraler Atemstörung hat. In ihrem jungen Alter wurde sie bereits über 60-mal operiert.
Als wenn das nicht schon herausfordernd genug wäre, erhielten Jeanette und Matthias im Jahr 2019 unabhängig voneinander binnen 14 Tage ebenfalls Diagnosen, die ihr Leben einmal mehr auf den Kopf stellten: Bei Jeanette wurde durch eine allergische Reaktion eine Arthro-Fibrose im ganzen Körper ausgelöst und sie sitzt im Rollstuhl, Matthias ist an Parkinson erkrankt. „Durch unsere eigenen Diagnosen haben wir uns gefragt: sind wir noch ein Paar oder haben wir uns schon auseinandergelebt?“, sagt Jeanette. Zwischenzeitlich stand auch eine Trennung im Raum. Doch eigentlich war den Beiden klar: „Wir gehören zusammen.“ Doch was blieb übrig von den Schmetterlingen im Bauch? Einfach mal auf „Reset drücken und zurück auf Start“, das war der große Wunsch. Auch wenn das nicht so einfach möglich ist, wollten sie zumindest symbolisch neu starten. „Nach so vielen Jahren wollten wir wissen, was mit den Worten von damals ´in guten wie in schlechten Zeiten` ist und nochmal vor Gott ´Ja` zueinander sagen“, sagt Jeanette. Dies war eigentlich ein paar Wochen vor ihrem Aufenthalt im Kinderhospiz geplant, es hatte nur noch das „Ja“ gefehlt. Aufgrund einer Notfalloperation von Matthias kam dies aber nicht zustande.
Vor wenigen Wochen stand der Aufenthalt im Kinderhospiz in Wilhelmshaven an. Die Familie war zwar schon mehrfach in verschiedenen Kinderhospizen zu Gast, an die Nordsee ging es jedoch zum ersten Mal. Jeanette sagt: „Ich bin ein neugieriger Mensch und Wilhelmshaven kannte zu dem Zeitpunkt noch niemand von uns.“ Da zum gegenseitigen Kennenlernen ein Aufnahmegespräch stattfand, kam auch das kurz vor der Ziellinie misslungene Hochzeitsversprechen auf den Tisch. Juliane Kallusky vom Pädagogischen Team griff den Wunsch, noch einmal vor Gott „Ja“, sagen zu dürfen, auf.
Und dann ging es alles ganz schnell. „Wir waren gerade auf dem Weg nach Groningen, als uns Pastor Bernhard Busemann anrief, zu dem Juliane zwischenzeitlich Kontakt aufgenommen hatte“, erinnert sich Matthias. „Er lud uns dazu ein, uns am nächsten Tag um 13.00 Uhr in der Christus- und Garnisonskirche nach dem sonntäglichen Gottesdienst erneut zu trauen.“ Die Freude war riesig. Der Ausflug nach Groningen wurde ein Tag voller spontaner Entscheidungen: ein Brautstrauß in den Farben von damals, Frisör, Schuhe usw.
Die Trauung war sehr emotional. Cathi übernahm nach dem Gottesdienst und ihrem ersten Abendmahl die Rolle der Brautjungfer, Trauzeugin und das Bindeglied der anwesenden Personen. Einen nochmal sehr emotionalen Moment gab es bei den Fotos vor dem Altar. In der Christus- und Garnisonskirche hängt ein Bild von der Nordsee. Zu Tränen gerührt sagte Jeanette: „Es war der größte Traum meines verstorbenen Opas, einmal mit seiner Jacht von Wilhelmshaven aus in See zu stechen.“ Sein Traum ging leider nicht in Erfüllung. Jeanette: „Aber wir wurden in Wilhelmshaven getraut – was für Augenblick!“
Bereits am Morgen hatten Cathi und die Pflegefachkräfte verabredet, dass das Brautpaar, den restlichen Tag für sich allein hat. Die Neuvermählten wählten den Südstrand, um gemeinsam zu essen. Sie konnten hier einen frühlingshaften Tag genießen, bevor sie am Abend im Kinderhospiz Kuchen und alkoholfreien Sekt für das Team ausgaben. Danach wurden sie mit einer liebevoll geschmückten Zimmertür und einem Bett voller Rosen überrascht. Matthias: „Wir waren ganz gerührt von so vielen liebevollen Gesten und sind dem Team sehr dankbar!“.
Für Jeanette und Matthias ist klar, dass sie wieder nach Wilhelmshaven kommen möchten: „Wir wissen nicht, ob wir das schaffen, aber wir werden alles dafür tun.“
Das Fazit von den Beiden lautet: „Es war überwältigend, wie viel von dem Kribbeln im Bauch und der Gewissheit, sich für den richtigen Partner für Leben entschieden zu haben, nach 45 Jahren noch vorhanden ist. Im Gegenteil: Es war sogar viel intensiver, als man sich mit ´Ja mit Gottes Hilfe` auf den Weg machte… Nur Mut – traut euch.“